von Cornelia Schimmel
Der Herzkatheter sollte Gewissheit schaffen. „Es wird nach knapp anderthalb Stunden vorbei sein,“ sagten die Ärzte am Deutschen Herzzentrum München. Doch es ist keine halbe Stunde vergangen, bis einer der Ärzte wieder vor Franziska steht. „Wir müssen reden.“
Clemens ist ein Wunschkind, entstanden aus einer Jugendliebe. Der Dreijährige ist vor Kurzem der große Bruder von Flora geworden. Es ist eine aufregende Zeit für ihn. Seine Eltern Franziska und Marcus sind sehr glücklich, dass sie jetzt zwei gesunde Kinder haben. Das haben sie sich immer genau so gewünscht.
Goldrichtiges Bauchgefühl
Bei seiner Geburt war Clemens ein großes und schweres Baby. Er entwickelte sich von Anfang an sehr gut und gab keinerlei Anzeichen, dass in ihm diese tödliche Zeitbombe tickt. Ein zufällig entdeckter Herzfehler bei Vater Marcus sensibilisierte die Familie: „Bei mir wurde damals bei der Musterung ein leichter Herzfehler festgestellt. Nichts Bedrohliches, aber er musste minimal-invasiv korrigiert werden,“ erzählt Papa Marcus. „Allein wegen meines Herzfehlers haben wir bei unserem vermeintlich gesunden Baby auf einen Herzultraschall bestanden.“ Die jungen Eltern hatten die richtige Intuition.
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Unter Beobachtung
„Der Ultraschall zeigte feine Koronarfisteln*, die sich um Clemens Herz woben wie ein feines Netz,“ erklärt Franziska. Das sollte sich rauswachsen, so der Kinderkardiologe. Ihr Sohn sollte halbjährlich zur Kontrolle wiederkommen. Doch Halbjahr für Halbjahr spannte sich das feine Netz aus dünnen Gängen weiter um sein kleines Herz. Nach drei Jahren der Beobachtung äußerte der Kinderkardiologe seine Unsicherheit: „Die Fisteln werden immer größer statt kleiner und sie transportieren immer mehr Blut. Sie müssen verschlossen werden…“
Er überwies sie ans Deutsche Herzzentrum München.
Ein Herz mit Sicherheitsnetz
„Wir müssen reden.“ – Franziska kann den Ausführungen des Arztes nicht richtig folgen. Er und seine Kollegen haben den Herzkatheter bei Clemens abgebrochen. Was sie entdeckten, habe noch keiner von ihnen zuvor gesehen: Ihr Kind hat eindeutig einen bisher unentdeckten ALCAPA-Herzfehler. Einen sehr seltenen angeborenen Herzfehler, den die meisten Kinder nicht überleben, da er schlummernd innerhalb des ersten Lebensjahres zum Herzstillstand führt. Das geheimnisvolle Netz aus Fisteln hatte sich um Clemens linke Herzhälfte geflochten, um das Herz mit Sauerstoff zu versorgen. Es hat ihn drei Jahre lang am Leben gehalten.
ALCAPA oder ein medizinisches Wunder?
„Die Zeit, die dann kam, war sehr schwer für uns.“ Sie haben mit einem Mal diese tödliche Diagnose für ihren Sohn. „Erst allmählich wurde uns klar, wie bedrohlich Clemens‘ Situation war.“ Die Ärzte sind sich – ob der medizinischen Sensation – uneinig über das weitere Vorgehen. Clemens wird ein weiteres Mal gründlich untersucht: erneuter Herzkatheter, Ultraschall, MRT, Belastungs-EKG, Röntgen … Die Ärzte müssen diese unglaubliche Diagnose mit eigenen Augen sehen, denn rein medizinisch ist es eigentlich unmöglich, dass Clemens lebt.
Jetzt gilt es schnell zu handeln: Keine acht Wochen nach der Schock-Diagnose ALCAPA-Herzfehler wird Clemens Deutschen Herzzentrum München am Herzen operiert.
Beruhigende Worte
Ein Arzt nimmt Marcus beiseite und sagt ihm etwas, das ihm in den nächsten Wochen viel Sicherheit geben sollte: „Wissen Sie, im Normalfall kommen ALCAPA-Kinder mit dem Hubschrauber und einem Herzstillstand direkt auf meinen OP-Tisch und wir müssen sofort reagieren. Bei Ihrem Sohn haben wir zwei Monate Zeit, uns auf die OP vorzubereiten.“
Wie erklärt man seinem Kind, dass es todkrank ist?
Franziska und Marcus stehen vor der Operation noch einer anderen schwierigen Aufgabe gegenüber: Wie sagen wir unserem Dreijährigen, dass er todkrank ist und ihm eine schwere Operation am Herzen bevorsteht? Die beiden nehmen ihren wissbegierigen Sohn ruhig zur Seite und erklären, dass an seinem Herzen etwas kaputt sei und es nun schnell repariert werden müsse. Und was repariert ist, das ist anschließend wieder ganz. „Wir haben ihm die Geschichte absichtlich mit einem Happy End erzählt, obwohl wir Angst bis unter beide Arme hatten.“
Der Tag der Operation
Die Corona-Krise steht noch ganz am Anfang, als Franziska und Marcus ihr Kind an der Schleuse zum OP abgeben. „Wir machten uns einen Plan, wie wir die Stunden füllen, bis wir ihn endlich wiedersehen können.“ Doch nach nur vier Stunden ist die Liste abgehakt. Sie müssen noch weitere sieben Stunden hinter sich bringen.
Heilende Hände
Franziska erinnert sich: „Wenn dein Kind am Herzen operiert wird, klammern die Gedanken sich an alles, was hilft. Ich konnte nicht aufhören, an die Hände des Chirurgen zu denken, der ihn gerade operierte. Schon im Vorgespräch klebten meine Augen auf diesen Händen. Sie würden das Herz meines Jungen halten. Es waren gute Hände – sehr fein und schön. Sie sahen aus, als schafften sie das.“ Und sie schafften es. Clemens übersteht die Herzoperation gut.
Opfer der Umstände
Clemens muss nach der OP eine Woche auf der Intensivstation bleiben, bis er zusammen mit seiner Mutter auf die Normalstation verlegt wird. Die Welt versucht vergeblich, die erste Corona-Welle zu brechen und Franziska muss mehr Abstand zu ihrem Kind halten als ihr lieb ist. Die Besuchszeiten sind sehr begrenzt. „Clemens Erinnerungen an die Zeit in der Klinik sind zwar sehr verschwommen, aber er sagt uns heute manchmal, dass wir auf der Intensivstation nicht da waren. Das bricht mir das Herz.“
Clemens Happy End
Clemens Herzgeschichte ist gut ausgegangen. Er wird in diesem Jahr eingeschult. Er ist wieder der lebhafte Kerl, der er vor der Diagnose des ALCAPA-HErzfehlers war. Doch manchmal sitzt er heute nachdenklich da und fragt: „Mama, man hätte sterben können, gell?“ Der angeborene Herzfehler war wie eine Naturkatastrophe, von der die Familie jäh überrollt wurde. Sie haben funktioniert und überlebt. Die Zeit zum Verarbeiten der Geschehnisse kommt erst jetzt.
© Michael Straubinger Fotografie
*Koronarfisteln sind eine abnorme rohrförmige Verbindung zwischen einer Koronar-Arterie und einer Herzhöhle oder einer Koronar-Vene bzw. einer Hohl- oder Lungenvene.
Nachwort
Franziska schrieb uns eine E-Mail, dass sie gerne Clemens Herzgeschichte erzählen würde. Während der Vorbereitung auf Clemens OP sind sie und Marcus auf unsere Herzgeschichten gestoßen und sie haben ihnen Mut gegeben. In unserem Interview frage ich Franziska, welche der Geschichten sie gelesen hätte. „Alle.“, antwortete sie. „Immer in der Hoffnung, dass die nächste vom ALCAPA handelt. Und dass sie gut ausgegangen ist.“
Wir hoffen, dass Clemens Geschichte für andere Eltern nun der Funken Hoffnung sein kann, den sie gerade brauchen.
Die Familie möchte einen großen Dank an die Ärzte, Ärztinnen und das Pflegepersonal des Deutschen Herzzentrums München aussprechen. Sie haben sich, trotz den Unsicherheiten rund um Corona, stets sicher, gut aufgehoben und gut einbezogen gefühlt. Sie sind sich sicher, dass die gute Atmosphäre hat zum Heilungsprozess beigetragen. Vielen Dank!